Das Wartezimmer

Während ich die Holztür aufdrücke fühle ich mich, als hätte ich gerade einen Berg erklommen. „Ich habe einen Termin um 14.30 Uhr,” keuche ich. Meine Atemlosigkeit ist mir zwar unangenehm, aber was soll man machen, wenn der Aufzug defekt ist und die Praxis sich im sechsten Stockwerk befindet?  „Name bitte?”, fragt eine junge Frau in einem roten Rollkragenpullover ohne dabei hoch zugucken, denn ihr Blick ist tief über ein großes Buch gebeugt. „Helen Hess,” sage ich langsam. Einige Augenblicke vergehen. Ich stütze mich immer noch hechelnd mit beiden Händen an der Empfangstheke ab. „Mh, … ich kann Sie nicht finden … dann nehmen Sie doch einfach für einen Moment dort drüben Platz.” Mein Blick folgt ihrer lapidar hingeworfenen Handbewegung zu einer milchig-weißen Tür auf der in ebenfalls weißen Buchstaben: RAUM I angebracht ist.

Beim Öffnen merke ich das diese Glastür bedeutend schwerer ist als die im Eingangsbereich. Augenblicklich durchfährt mich in meiner rechten Hand ein stechender Schmerz. Dieses unangenehme Gefühl ist mir bereits vertraut, dennoch überrascht mich sein plötzliches Erscheinen immer wieder. Ich bewege die Hand einige Male schnell hintereinander als wollte ich den Schmerz wegschütteln und betrete einen hellen Raum in dem sich ungefähr zehn Leute aufhalten, die Hälfte davon ist in eine Zeitschrift vertieft, die andere Hälfte starrt stumpf vor sich her. Nachdem ich meine Jacke an der Garderobe abgelegt habe hauche ich ein Guten-Tag irgendwo in die Mitte des Raumes. Es muss wohl etwas zu leise gewesen sein, denn niemand antwortet mir. Ich frage mich, warum es diesen Brauch überhaupt gibt, plötzlich Leute zu grüßen, nur weil man sich schicksalsverbunden zufällig zur selben Zeit am selben Ort befindet. Auf unbestimmte Zeit eingepfercht auf ein paar Quadratmetern …

Es sind nur noch zwei Stühle frei. Das Plastik fühlt sich hart und kalt an, deswegen rutsche ich einige Male hin und her. Ich greife zu einem Zeitschriftenstapel. Die Auswahl ist mager, die Magazine sind ziemlich abgegriffen und auch nicht mehr ganz aktuell. Meine Wahl fällt auf eines dieser furchtbaren Klatschblätter, die man freiwillig nie kaufen würde, aber dennoch bei jeder Gelegenheit geradezu verschlingen muss. Gierig tauche ich ein in die Welt der Stars und Sternchen … wer alles mit wem, … wie viel abgenommen hat, … Schluss gemacht oder doch nicht … die neusten Erkenntnisse über Botox, Fettabsaugen lassen oder doch lieber eine Diät machen. Ein Grunz-Schmatz-Laut lässt mich plötzlich in die Höhe fahren. Das Geräuch stammt von einer Frau in pinken Leggings. Ich sehe gerade noch wie ihr Finger aus dem linken Nasenloch wieder zurück zu der Zeitschrift geht, um die nächste Seite umzublättern. Mit halbgesenktem Kopf werfe ich ihr einige böse Blicke zu. Was sie leider völlig ignoriert. Einmal meine Aufmerksamkeit in unangenehmer Weise erregt, kann ich mich nicht mehr auf das Lesen konzentrieren, ich höre nur noch dieses Schmatzen in meinem Ohr. Tiefdurchatmen – ruhig bleiben – an etwas anderes denken … Schließlich lasse ich den Blick im Raum umher schweifen. Schnell wird mir klar, dass nicht nur die Dame in Pink einen Dauergeräuschpegel in dem kleinen Raum verursacht. Der Mann links neben mir fängt plötzlich an leise zu pfeifen. Im Prinzip ist es gar kein Pfeifen vielmehr zieht er mit gespreizten Lippen die Luft ein und aus wodurch ein Zischlaut entsteht. Auch er bekommt meinen bösen Blick zu spüren. Langsam wird mir bewusst, dass ich die Wirkung meiner Blicke ziemlich überschätze.

Ein junger Mann mit Brille und glänzenden Schuhen betritt den Raum. Er grüßt höflich in die Runde und setzt sich mit schwungvoller, dennoch eleganter Bewegung auf den letzten freien Stuhl. Seine Normalität beruhigt mich und lässt mich jegliches Grunzen und Ein-Aussaugen vergessen. Damit er sich nicht genauso vor den Kopf gestoßen fühlt wie ich, grüße ich umgehend zurück. Zum ersten Mal fühle ich mich von der pinkfarbenen-grunzenden Frau beachtet. Sie guckt mich völlig irritiert an, die Gunst der Stunde nutzend, werfe ich ihr erneut einen bösen Blick zu. Wahrscheinlich zu spät, denn sie hat ihren Kopf bereits zu den glänzenden Schuhe des jungen Mannes gedreht. Die Tür geht auf und die Frau in dem roten  Wollkragenpullover  von dem Empfang betritt den Raum. Hoffnungsvoll blicke ich zu ihr hoch: „Bitte“ denke ich, „Bitte, sage meinen Namen …“

Doch stattdessen höre ich nur ein Gelangweiltes: „Herr Berger, sie sind der Nächste.” Als ob er es geahnt hätte, steht in einem Bruchteil von Sekunden ein Mann an der Tür. Ich meine ein schadenfreudiges Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen als er den Raum verlässt. ‘Vielleicht schneidet er aber auch nur ein paar Grimassen um seine Gesichtsmuskulatur zu lockern, denke ich scherzhaft. Ein Husten lässt mich zusammen zucken. Eigentlich sitze ich hier um gesund zu werden und nicht noch kränker. Der Hustlaut scheint kein Ende mehr zu nehmen, wird im Gegensatz nur noch schlimmer und geht schließlich in ein Würgelaut über. Die Frau in Pink scheint sich wohl darauf spezialisiert zu haben unmögliche Geräusche von sich geben zu müssen. Schließlich verlässt sie mit tief nach vorn gebeugtem, hochrotem Kopf den Raum. Ich fühle mich erleichtert und schaffe es sogar einen älteren Herrn in einem dunklen Anzug zu ignorieren, der mit weit aufgerissenen Augen unentwegt an die Decke starrt, als würde dort eine geheime Botschaft stehen. Es gelingt mir sogar auszublenden, das er nach einer Weile anfängt furchtbar mit dem Kiefer zu knirschen, so dass für wenige Sekunden die Ein- und Aussauglaute vollkommen überdeckt werden.

Schon im nächsten Moment öffnet sich die Tür erneut auf und eine korpulente Frau mit theatralischer Geste und wehendem Mantel tritt ein und zerstört somit alle Versuche mich dieser nervtötende Umgebung zu entziehen. Die Dame scheint in einem Bruchteil von Sekunden den Raum abgescannt zu haben und entdeckt tatsächlich eine Bekannte, die am anderen Ende sitzt. Augenblicklich entfährt ihr ein: „Marie, wie schön dich hier zu treffen … wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen? Ewig, … ach du meine Güte und jetzt hier! Was für ein Zufall, wie wundervoll.“ Marie scheint weniger entzückt zu sein. Die Frau redet in einem fort wie ein Wasserfall. Ihre eher unauffällige Bekannte nickt dabei ab und zu mit einer mechanisch anmutenden Kopfbewegung. Manchmal sagt sie auch: „Aha, ach so ist das … was du nicht sagst.“  Man kann schwer sagen, ob sie interessiert ist oder sich nicht anders zu helfen weiß. Die korpulente Frau in dem langen Mantel stellt wilde Theorien auf: „Eigentlich interessiere ich mich überhaupt nicht für Geschichte, das sind doch alles reine Spekulationen, das ist doch alles nur fiktiv, ich meine wie kann man wissen was vor hunderten von Jahren passiert ist, wenn man noch nicht einmal den Tod von Lady Di aufklären kann. Und überhaupt was für ein Tod. Eine ganz, ganz tragische Geschichte. Und dabei waren sie gerade soooo glücklich. Mit dem Mann sage ich dir, wäre ich aber auch glücklich geworden. Weißt du eigentlich wie reich der war? Und gut sah er aus! Dann dieser Unfall … wie habe ich damals mitgelitten?“ Da ihr ewiger Monolog das Einzige ist was die Stille durchbricht, muss ich ihr unweigerlich zuhören. Plötzlich schwenkt das Thema zu diversen gemeinsamen Bekannten um und die unscheinbarere Frau – Marie –kommt endlich auch einmal zu Wort.

Die Menschen in dem Raum scheinen sich in ihrem eigenen kleinen Universum zu befinden. Ich muss mich in den Arm kneifen um mich von meiner eigenen Anwesenheit zu überzeugen. Die Monotonie der Situation wird lediglich dadurch unterbrochen, dass im Viertelstunden-Takt einer der Wartenden herausgerufen wird. Jedes Mal drehe ich den Kopf hoffnungsvoll zur Tür, doch mittlerweile habe ich mich schon mit dem Gedanken abgefunden, dass es noch eine Weile dauern kann. Ab und zu, jedoch selten, kommen neue Leute herein.

So kommt eine Frau Mitte vierzig mit ihrem ungefähr sechzehnjährigen Sohn herein. Der Umgang der beiden wirkt sehr vertraut. Gelangweilt kaut der Junge Kaugummi. Die beiden setzten sich wortlos nebeneinander, die Mutter greift sofort zu dem Magazinstapel. Mutter und Sohn sprechen immer noch kein Wort miteinander. Nur einmal tippt die Frau hektisch auf etwas das sie in einem der Magazine entdeckt hat. Der Sohn nickt zustimmend und grinst. Ich bin fasziniert von dieser Kommunikation, die auf einer ganz eigenen Zeichensprache zu basieren scheint.

Die enge des Raumes löst eine plötzliche Energielosigkeit in mir aus, alles scheint an Schwerkraft zu verlieren. Schließlich nimmt die Apathie überhand und meine Lieder fallen zu. Ich muss wohl für einige Zeit eingenickt sein, denn als ich die Augen wieder aufschlage ist es bereits Dunkel. Das Magazin ist aus meiner Hand auf den Boden gefallen und liegt nun aufgeschlagen vor mir. Es befindet sich nur noch der junge Mann mit den glänzenden Schuhe in dem Raum und sieht mich an. Flirtet er mit mir? Die Situation ist schwer einschätzbar. Unsere Blicke kreuzen sich, ich würde gerne mit ihm ein Gespräch beginnen und überlege was wohl der beste Einstieg dafür sei. Doch der Augenblick währt nicht lange, die Tür öffnet sich und die dauergelangweilte Frau in dem Rollkragenpullover erscheint wie schon so oft an diesem Tage. Der junge Mann steht auf und geht, doch bevor er den Raum verlässt, dreht er sich noch einmal um und haucht: „Viel Glück.“ Er spricht allerdings so leise, das ich mir nicht sicher bin, ob er das wirklich sagt. Viel Glück würde angesichts meiner Situation keinen Sinn machen oder denkt er das ich so krank bin das ich Glück brauchen würde. Irritiert erwidere ich: „Danke“, ebenfalls so leise, dass es genauso gut ein Tschüß hätte sein können. So bleibe ich als Einzige zurück. Totenstille.

Es vollkommen dunkel draußen geworden. Ich erhebe mich um den Lichtschalter zu drücken. Meine Glieder sind schwer und fühlen sich an als wären sie mit dem Stuhl bereits verwachsen. Der Raum erstrahlt nun in einem grellen Licht und bekommt dadurch eine Sterilität, die in mir eine ungewohnte Befangenheit auslöst. Das klinische Weiß an den Wänden, dazu die stickige Luft, mein Atem geht schwer und langsam. Der plötzlichen Lichtüberfluss lässt alles überreal erscheinen.

In dem Moment öffnet sich zum letzten Mal an diesem Tag die Tür. Mit erstauntem Blick steht die Rollkragen-Frau vor mir: „Ach, da ist ja noch jemand … das tut mir leid, da haben wir sie wohl ganz vergessen! Und ich habe mich schon so auf meine Feierabend gefreut.” Ich nicke emotionslos, vor ein einigen Stunden noch hätte mich dieser Moment mit Freude erfüllt, doch jetzt spüre ich nicht mal mehr Erleichterung. „Wie war der Name?“, fragt sie mich nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag. „Helen Hess.“, sage ich gleichgültig. „Sie stehen gar nicht auf meiner Liste. Na, dann gehen sie einfach den langen Gang dort entlang, der macht eine leichte links Kurve und nehmen dann die zweite Tür links.“ Wortlos folge ich der Bewegung ihrer Hand. Ich bin mir nicht sicher ob ich ihre Beschreibung richtig verstanden habe, doch bin ich mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem mir alles egal ist. „Raum drei“, ruft sie mir noch hinter her.

So stehe ich vor einer milchig-weißen Tür auf der in ebenfalls weißen Buchstaben: RAUM III angebracht ist und komme in einen halbdunklen Raum mit schweren Eichemöbeln. Setzte mich an einen breiten Tisch und blicke einem Mann mit Halbglatze und Brille in die Augen. Das heißt, ich versuche es, denn die Brille spiegelt so sehr, dass ich seine Augen nur erahnen kann. Er hat die Hände vor seinem Bauch gefaltet und sagt: „Ach, da ist ja noch Eine. Da haben wir Sie wohl ganz vergessen?” Es folgt eine erwartungsvolle Pause. Nun bin ich am Zug, doch was um Gotteswillen kann man auf diese Äußerung erwidern?

Ich mich erst mehrere Male Räuspern bevor ich ihm mein Anliegen vortragen kann: „Also, ich hoffe sie können mir helfen, denn ich habe Schmerzen in meiner rechten Hand, ein Stechen, … eine Art Dauerschmerz, seit Tagen oder besser Wochen schon. Es fühlt sich an als würde jemand mit einem langen, spitzen Stab permanent hinein stechen …” Während ich diese Worte sage oder besser aus mir heraus presse, muss ich mir selbst erst vergegenwärtigen warum ich eigentlich hier sitze. Dabei konzentriere ich mich auf meine Hand, denn schlagartig wird mir bewusst, dass das Stechen seit Stunden, fast schon seitdem ich die Praxis betreten habe, verschwunden ist. So kann ich nur noch stammeln: „äh … ich hatte zumindest Schmerzen. Jetzt sind sie irgendwie weg. Seltsam, dass kann ich mir jetzt selbst nicht erklären.” Ich schüttele meine Hand heftig in der Hoffnung, dass der vertraute Schmerz wieder erscheint. Stille, keiner von uns beiden sagt einen Ton. Die Anwesenheit einer Uhr kann ich nur durch ein bedrohliches Ticken erahnen. So stammle ich einfach weiter: „Also, ich meine ich hatte Schmerzen, bzw. habe jetzt keine mehr. Mir ist bewusst, dass sich da ganz schwer eine Diagnose fällen lässt.“  Der Mann nickt langsam, bedächtig. Diese Ambiente erinnerte mich an einen alten Schwarz/Weiß-Film. Wir sitzen uns einige Sekunden schweigend gegenüber, als würde die Zeit stehen bleiben. Schließlich sagte er: „Leider muss ich ihnen gestehe, dass ich gar nicht der richtige Arzt für ihr kleines Problem bin. In dem Fall würde ich Ihnen eher einen Orthopäden empfehlen. Warten sie … ich schreibe ihnen mal eine Nummer auf.” Dabei nimmt er einen Zettel und schreibt eine Nummer darauf. Er muss seinen Arm lang ausstrecken, um mir den Zettel entgegen zu strecken, welchen ich zögerlich entgegen nehme. „Großartig Sie haben die Rolle. Bitte rufen Sie mich morgen auf dieser Nummer an und wir klären alle weiteren Details. Sie sind einfach wie geboren für eine der Hauptrollen in der neuen Arztserie. Diese neue Sendeformat ist wie geschaffen für sie …“ Zum Abschied reicht er mir seine Hand und schüttelt sie kräftig. Da ist er wieder der stechende Schmerz.

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