Archive for the ‘Kurzgeschichten’ Category

Die Kleine und die Große

Samstag, Oktober 15th, 2011

Eine junge Frau sitzt auf einer Parkbank. Wie aus dem Nichts, steht plötzlich ein kleines Mädchen vor ihr und starrt sie an. Dieser forsche, zielgerichtete Blick reißt sie aus ihren Tagträumen: „Kaufst du mir ein Eis?“ Die Frau ist zunächst sprachlos, doch die dünne Kinderstimme wiederholt etwas eindringlicher: „Was ist jetzt, kaufst du mir ein Eis?“. Der erste Impuls der Frau ist  „Nein, warum sollte ich“ zu sagen, doch dann ändert sie ihre Meinung: „Ganz schön frech bist du! Aber nagut, ich kaufe dir ein Eis, wenn du mir versprichst, dass du brav bist und keine fremden Leute mehr ansprichst, die gerade trübsinnig ihren Gedanken nachgehen.“ „Waaaaas, du kaufst mir wirklich ein Eis?“ „Ja aber, warum fragst du mich überhaupt, wenn du es selbst nicht für möglich gehalten hast.“ Verschüchtert beißt sich das Mädchen auf die Lippe und schweigt.

Das Eisgeschäft befindet sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, gehorsam trottet die Kleine hinter ihr her. „Was möchtest du?“ fragt die Frau und dreht sich dabei zu dem kleinen Mädchen um. „Vanille und Nuss.“ „Zufälle gibt es, das sind auch meine Lieblingssorten oder waren es viel mehr, als ich noch ein Kind war.“ „Duuu warst mal ein Kind?“ „Wieso, sehe ich so alt aus, dass du mir das nicht zutraust?“„Neeeeein, lacht das Mädchen, „du bist nur so grooooß.“ Sie lachen nun beide und die Frau muss überlegen, wann sie das das letzte Mal so herzhaft getan hat. „Ich möchte auch so sein wie du, so groß.“ Bewundernd nimmt das Mädchen den Kopf in den Nacken und sieht zu ihr hoch. „Ach, lieber nicht, das wirst du noch früh genug und dann wünschst du dir wieder klein zu sein!“ „Aber wenn ich groß bin, dann werde ich Schauspieler oder Abenteurer oder ich fahre einmal quer durch den ganzen AmaSonas … oder …“ „Es heißt Amazonas mit einem Z … Was für eine naive Vorstellung. Du weißt gar nicht wie gefährlich es dort ist. Man muss sich gegen Alles mögliche Impfen lassen, sonst bekommt man nachher noch eine lebensgefährliche Krankheit. Außerdem gibt es jede Menge bösartige Tiere. Das sind doch alles nur Träumereien. Warte mal ab, bis es soweit ist wirst du dich bestimmt ganz anders entscheiden!”

Der  Gesichtsausdruck des Mädchens wird mit einem Mal sehr streng und wirkt gar nicht mehr kindlich. Ihre Stimmte klingt barsch und verliert den piepsigen Ton. “Wie redest du mit mir? Das ist respektlos. Lass mir meine Träume, wenn du keine mehr zu haben scheinst.” Die Frau erschrickt, dass sind nun nicht mehr die Worte eines kleinen Mädchens. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen oder verletzen …” Die Kleine kneift ihre Augen zu und beobachtet jede ihrer Bewegungen genau. Die Frau ist irritiert: „Was siehst du mich so an, erinnere ich dich an jemanden, … an deine Mutter?” „Mh, kann sein oder an meine große Schwester vielleicht.” Sie verfällt schlagartig in eine nachdenkliche Haltung und mit konzentriertem Blick kaut sie geistesabwesend an ihren Fingernägeln. Wie aus einem Reflex entfährt der Frau ein Lautes: „Neeein, fang bloß nicht damit an, je früher du damit aufhörst desto besser.” Dann fügt sie deutlich leiser hinzu: „Sie dir meine Nägel an, bis heute habe ich mir diese schlechte Eigenschaft nicht abgewöhnen können.” Mit diesen Worten streckt sie die Finger aus und zeigt sie dem Mädchen. „Oh, die sehen aber nicht schön aus!” ihr Gesichtsausdruck wirkt dabei angewidert: „Solche hässlichen Nägel wie du möchte ich nicht haben!”

Dem Mädchen steigen plötzlich dicke Tränen in die Augen, dabei schüttelt sie sich und stampft mit dem Fuß auf. Als sie schließlich beginnt bitterlich zu weinen und dabei haarsträubende Schluchzlaute ausstößt, wird es der Frau langsam unangenehm. Sie schaut verstohlen nach links und rechts. Am liebsten hätte sie jedem der Vorbeigehenden gesagt: „Äh, das ist nicht mein Kind, … ich weiß auch nicht, was sie hat …“ Doch niemand scheint Anteil an dem Gefühlsausbruch des kleinen Mädchens zu nehmen. Keiner beachtet die Beiden. „Du hast es versprochen!“ „Was habe ich versprochen?“ Mit tränenerstickter Stimme, stößt das Mädchen hervor: „Damals hast du gesagt, dass …“ mitten im Satz stockt sie  und schluckt die letzten Tränen herunter: „Ich bin ich froh dich getroffen zu haben. Vielen Dank für das Eis.“ Das kleine Mädchen stopft sich schnell den letzten Bissen der Waffel in den Mund, dreht sich um und verschwindet hinter den parkenden Autos. Als sie schon nicht mehr zu sehen ist, hört man ihre piepsige Stimme noch rufen: „… und Grüß Konrad von mir!”

Konrad? Hat sie das wirklich gesagt? Woher wusste das Mädchen davon? Konrad war ihr Geheimnis. Konrad war eine Puppe, die sie als Kind geschenkt bekommen hatte und der sie immer noch alles anvertraute, wenn sie das Gefühl hatte, sich an niemand anderes mit ihren Sorgen wenden zu können. Eine seltsame Ahnung überkommt sie, die Kleine vorher schon einmal gesehen zu haben.

Sie dachte noch lange über diese Begegnung nach, konnte sie jedoch keinen Reim darauf machen. Kurz darauf, in einer schlaflosen Nacht, holt sie schließlich einen alten Karton unter ihrem Bett hervor. Sie kramt eine Weile in den Papierschnipsel und Kleinigkeiten umher und findet schließlich ein Foto. Das Bild ist leicht verschwommen, aber sie weiß dass die Abbildung sie selbst als Kindergartenkind zeigt. Mit Bedauern muss sie feststellen, dass manche Erinnerungen, die sie vor einiger Zeit noch in ihrem Gedächtnis wie in einem inneren Film abrufen konnte, immer mehr verblassen. Ja, sie hatte sogar den Eindruck, dass die Erinnerung selbst ausgelöscht ist und nun nur noch eine Erinnerung der Erinnerung vorliegt. Wie eine mit jedem Mal schlechter werdende Kopie, wenn man sie erneut kopiert …

Auf dem Boden des Kartons finden sie ein paar alte Kinderzeichnungen. Damals war ihre Phantasie schier unerschöpflich, auf dem Papier entstanden die unglaublichsten Märchenwelten. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht betrachtet sie Bild für Bild. Bei einer der Zeichnungen stockt ihr jedoch der Atem: Ein kleines Mädchen und eine Frau mit einer Eiswaffel in der Hand vor einem Eistand. Wie ein Blitz durchfährt sie die Gewissheit, dass dies eine Szene aus einem Traum war, der sich vor langer Zeit in regelmäßigen Abständen wiederholt hatte. Immer und immer wieder. Warum, was sollte das alles? Warum wurde sie erneut mit diesem längst vergessen Traum konfrontiert? Warum scheint dieser Traum sie nun bis in die Realität zu begleiten.  Nur das sie dieses Mal nicht das kleine Mädchen ist, sondern die junge Frau. Sie hält das Bild fest in beiden Händen und ihr Blick geht zu ihren Fingernägel, welche sich makellos und unversehrt in einem perfekten Halbmond präsentieren.

Der Schrecken in ihrem Gesicht verschwindet und sie muss lächeln. Wollte sie nicht eigentlich immer schon eine Reise in den Amazonas machen?

Der Seelenspiegel

Sonntag, September 19th, 2010

… der Spiegel der Seele

Vor einiger Zeit ist mir etwas so Wundersames, Unerklärliches passiert, das ich es unbedingt erzählen muss: Wie schon etliche Male zuvor, fragte ich eine vorbeigehende Person nach dem Weg zu einer bestimmten Straße, da ich mich hoffnungslos verlaufen hatte. Es handelte sich um einen älteren, dunkelhaarigen Mann. Sein Blick war tief und eindringlich und ich spürte eine seltsame Regung in mir. Diese Augen kamen mir so unheimlich bekannt vor, als ob ich in meine eigenen Augen blicken würde. Irritiert blickte ich schnell zur Seite dem Blick nicht länger standhalten können. Unbeirrt antwortete er mir. Ich riskierte noch einen zweiten Blick, … das gleiche Gefühl. Was hatte das zu bedeuten? Der Mann redete und redete, ich verstand nur die Hälfte, nickte aber die ganze Zeit. Bemerkte er meine Irritation? Als der geheimnisvolle Mann seine Erklärung beendet hatte, bedankte ich mich und setzte meine Weg in die angedeutete Richtung fort, ohne genau zu wissen wohin er mich eigentlich geführt hatte. Nach ein paar Schritten, drehte ich mich um und wagte einen Blick in seine Richtung, in dem Moment hielt ein Auto neben mir. Er war es. „Nach der Kreuzung links”, hörte ich ihn sagen. Ich nickte geistesabwesend. Dann verschwand er.

Einen Tage später sollten sich unsere Wege erneut kreuzen. Wie aus dem nichts stand er plötzlich vor mir. „… na, was für ein Zufall!” Unwillkürlich merkte ich wie meine Wangen sich mit Blut füllten: „Vielen Dank nochmals für die Wegbeschreibung, ich war gestern wirklich völlig verzweifelt.” „Oh, sie erinnern sich an mich! Haben Sie Lust auf einen Kaffee? Kommen sie ich lade sie ein … da vorne ist ein nettes Cafe, es ist nicht so überlaufen, da sind wir ungestört.” Ungestört? Warum sollte ich, mit jemandem den ich kaum kenne, ungestört sein wollen. Der Kerl kam mir mit einem Mal sehr suspekt vor. Ja, die ganze Situation machte mich misstrauisch. Das Cafe war in der Tat klein und ebenso leer. Er bestellte zwei Tassen Kaffee, welche auch promt an unseren Tisch gebracht wurden. Er trank einen Schluck, blickte mich wieder mit seinem seltsam bekannten Augen an und verzog dabei seine Lippen zu einem schelmischen Grinsen: „Ich muss ihnen etwas gestehen, ich habe ihre Seele geklaut!” Nach diesem Satz wäre ich am liebsten aufgestanden und hätte ihn mit seinem Kaffee alleine gelassen, ich ließ ihn jedoch aus Neugierde weiterreden.

„Als sie mich auf der Straße ansprachen, war ich mir erst nicht sicher, ob es wirklich ihre Seele ist, die nun in meinem Körper wohnt.” Fassungslos schaute ich ihn an. „Äh, was genau wollen sie mir damit sagen?” „Ich meine, dass ich im besitzt ihrer Seele bin da ich meine vor langer Zeit verkauft habe. Sie sind nur noch eine leere Hülle.” Ich schluckte: „Ich fühle mich aber gerade gar nicht leer.” „Noch nicht, da ich ihn ihrer Nähe bin, doch sie werden sich bald sehr leer fühlen. Sie müssen sich vorstellen, dass die Seele nach dem Wechsel noch eine Weile in dem alten Körper nachglüht.” Mein Hals fühlte sich trocken an, meine Worte kamen wie ein Krächzen aus meiner Kehle. „Aha, und was wird sein, wenn diese Nachglühen beendet ist.” „Dann werden sie zu dem, was ich vor einiger Zeit noch war: Eine leere Hülle.” „Aber wie konnten Sie das tun, warum gerade ich?” „Die Gelegenheit war gut und einen muss es schließlich treffen.” „Wie kann ich das wieder rückgängig zu machen?” Er lachte laut und lange, es schien fast als hörte er gar nicht mehr damit auf. Die wenigen Leute in dem Cafe drehten sich schon nach uns um. „Denken sie, dass würde ich ihnen erzählen, ich bin froh gerade eine Seele wiedererlangt zu haben.” „Warum erzählen sie mir das alles?” „Weil es mir Spaß macht, das ist der einzige Grund. Sie sind machtlos und können nichts dagegen tun. Warum wohl habe ich meine alte Seele verloren?” „Dann erklären sie mir eins: Warum haben sie sich nicht einen Mann für Ihren Seelentausch gesucht?” „Das kann ich ihnen sagen, an eine weibliche Seele zu gelangen schien mir einfacher.” Ich wollte widersprechen, fragen ob er schon mal etwas von Emanzipation gehört hat und warum denn bitte eine Frauenseele schwächer sein sollte, konterte aber stattdessen: „Wenn sie so weiter machen, werden sie meine Seele schnell wieder los werden.” Als er nicht direkt antwortete setzte ich hinterher: „Müssten sie außerdem nicht bald werden wie ich, wenn meine Seele in ihrem Körper gefangen gehalten wird?” „Sie verstehen nicht viel von Seelenwanderung. Ihre Seele wirkt lediglich wie eine Art Motor für meinen Körper. Es könnte jedoch durchaus sein, dass ich bald Dinge tun werde, dich ich vorher nicht getan habe, die eher ihnen ähnlich sehen. Ich denke da wird nicht viel kommen.” Was für eine seltsame Formulierung. „Danke für den Kaffee”, sagte ich, denn ich hatte genug gehört und verließ das Cafe. Ich spürte, dass das genau die Reaktion war, die er erwartet hatte.

Den ganzen Vorfall musste ich erst einmal verarbeiten. Allzu viele Leute wollte ich nicht in mein kleines Geheimnis einweihen, da ich befürchtete man könnte mich für verrückt halten. Jemandem musste ich jedoch davon erzählen. Doch wem? Bei Domian anrufen? Wie viel Zeit blieb mir noch bis meine Seele komplett aus meinem Körper ausgelöscht wäre? Soviel war klar: schnelles Handeln war gefragt. Mein Herz klopfte laut und schnell. Meine Seele war bereits schwächer geworden, mir fehlte es an Energie. „Rette deine Seele so schnell es geht”, schoss es mir durch den Kopf. Mein erster Gedanke war einen Arzt aufzusuchen. Welchen Arzt ruft man an wenn es um einen Seelenverlust geht? Einen Psychologen etwa? Ein Allgemeinmediziner wird wissen was zu tun ist, beschloss ich. Zwei Stunden später befand ich mich im Wartezimmer eines Arzt mit dem wundervollen Namen Dr. Hendrik Retter. Na, passt doch. Während ich in einer der Zeitschriften blätterte, zitterten meine Hände. Kaum nahm ich Notiz von einer alten Dame, die sich noch in dem Zimmer befand. Plötzlich griff eine knochige Hand nach meinem Handgelenk und umfasste es fest. Mir stockte der Atem, mittlerweile jedoch auf alles vorbereitet, was da kommen sollte. Ich blickte zur Seite: Es war die alte Frau die zu mir herüber gekommen war, um meinen Puls zu fühlen. Sah ich tatsächlich so schlecht aus. „Was tun sie da?” fragte ich verwundert. „Mein, Kind, du bist sehr geschwächt. Erzähle mir was passiert ist.” „ … woher wissen sie, … also gut, stammelte ich, bevor es aus mir heraus brach, wie es eben aus jemandem herausbrechen kann, der gerade keine Seele mehr besitzt oder zumindest nur noch etwas wie das Nachglühen einer Seele.” Das Lächeln der Frau strahlte so viel Wärme aus, dass ich ihr die ganze Geschichte von meiner mysteriösen Begegnung mit diesem ebenso mysteriösen Mann erzählte. Die Frau nickte, als hätte sie sich so etwas schon gedacht: „Nun ja, hier wurde einiges falsch dargestellt. Es handelt sich in der Tat um einen Seelentausch, du bist nun im Besitz einer durch schlechten Lebenswandel geschwächten Seele während er deine unverbrauchte intakte Seele besitzt.” Sie zog einen kleinen, runden Spiegel aus der Tasche, der von glitzernden Halbedelsteinen umgeben war. Wie im Reflex und fasziniert von den funkelnden Steinen griff ich danach und schaute hinein. „Was für ein hübscher Spiegel …”, doch was ich erblickte ließ mich so erschrecken, dass ich ihn fast fallen ließ. „Vorsicht mein Kind, es handelt sich um ein sehr wertvolles Instrument, dass auf keinen Fall beschädigt werden darf. Mit Hilfe eines solchen Spiegels wurde deine Seele gefangen und gegen einen andere getauscht und hiermit kannst du mit deinem Peiniger in Kontakt treten.” Als ich erneut in den Spiegel blickte konnte ich ihn sehen: Meinen Seelenfänger. Er lief in einem kargen Zimmer umher, als würde er etwas suchen. Ein Gefühl von Macht überkam mich, denn nun hatte ich ihn in der Hand. Die Tür des Wartezimmers öffnete sich: „Frau Raukenhold, sie sind die Nächste”, hörte ich eine dumpfe Stimme wie aus einem Nebel sprechen. Als ich mich wieder der alten Frau zuwenden wollte, war sie weg. Ebenso mein Siegesmut, nun war ich wieder alleine mit meinem Problem. Wie konnte sie einfach verschwinden, ich hatte noch tausend Fragen? Auf mein Nachfragen hin, sah mich die Sprechstundenhilfe erstaunt an und sagte lediglich: „Tut mir leid, ich weiß nicht wo von sie sprechen, sie waren die Letzte im Wartezimmer.” Fluchtartig verließ ich die Praxis, ein Allgemeinmediziner konnte mir bei meinem kleinen Problem nicht helfen.

Ein weiters Mal schaute ich in den Spiegel, der mir nun wie eine Art Guckloch präsentierte was der Mann auf der anderen Seite gerade tat: Mit zufriedenem Grinsen schob er ein Stück Kuchen in den Mund. „Soll er doch daran ersticken.” Im gleichen Moment musste mein Seelendieb plötzlich in ein fürchterliches Husten ausbrechen und erholte sich erst wieder als er wie ein Hummer im heißen Wasser rot angelaufen war. Dank des Spiegels konnte ich nun wieder mit meiner Seele in Kontakt treten. Allein die Vorstellung gab mir neue Kraft. Ein neuer Versuch: „Soll er doch über seine eigenen Füße stolpern” … – nichts passierte. Meine ganze noch verbliebene Kraft zusammen nehmend, versuchte ich mich auf meine Gedanken zu konzentrieren und … siehe da er stolperte über eine hervorstehende Teppichkante und fiel hin. Im Spiegel sah ich meinen Peiniger auf dem Boden liegen, er hob seinen Kopf und schaute verdutzt umher.

In der Nacht schlief ich sehr schlecht, wälzte mich von einer Seite auf die andere und musste tausend Gedanken in meinem Kopf sortieren. Am nächsten Morgen war er da: Ein Plan meine Seele wieder zurück zu erlangen. Sollte meine Seele auch unverbraucht sein, sie hatte zugleich ihre Ecken und Kanten. Den kleinen Spiegel legte ich vor mich und um der Sache einen mystischen Touch zugeben und zündete neun Kerzen an. Die Augen fest geschlossen konzentrierte ich mich auf eine Szenerie, die ich in allen Einzelheiten immer und immer wieder durchspielte und laut vor mich her sprach, nur so konnte ich meine Seele lenken und das tun lassen was ich wollte! Ich musste laut auflachen, als ich meinen Peiniger am Morgen aus dem Haus stürmen sah um sich im nächsten Kaufhaus durch einen Berg von Taschen, Socken und Kosmetikartikeln zuwühlen. Seinem gequälten Gesichtsausdruck zu urteilen, wusste er gar nicht wie ihm geschah. Dem ersten Wühltisch folgte der Nächste, und der Nächste … ich zeigte kein Erbarmen und ließ keinen noch so kleinen Laden aus. Schließlich saß er in einem Meer von Tüten und Taschen gefüllt mit Dingen die, die Welt nicht braucht. Er sah fix und fertig aus. Power-Shopping, eine eiskalte Waffe die jeden Mann in die Knie zwingen musste. Am Abend sah ich ihn völlig kraftlos in seinem Sessel sitzen. Doch lange sollte die Entspannung nicht anhalten. Meine Lieblingsserie würde ihm bald schon den Rest geben, ob er wollte oder nicht er musste sie sich von vorne bis hinten ansehen. Der nächste Morgen sollte für den armen Kerl keine Besserung bringen, denn sein Körper war von oben bis unten mit roten, eitrigen Flecken überzogen. Das konnte nichts anderes sein als die ersten Anzeichen einer allergischen Reaktion auf meine Seele. Ein grauer Schleier lag über der ganzen Szenerie, die sich mir in dem Spiegel darbot. „Das ist meine Seele”, dachte ich, „ … die sich langsam aus seinem Körper entfernt. Ja, sein Körper beginnt langsam meine Seele wieder abzustoßen.” Zufrieden lehnte ich mich zurück: „So, mein Lieber, nun musst du mir zurückgeben was du mir genommen hast, denn der Schwächere bist nun du, sprach ich in den Spiegel hinein.” So viel zum Thema eine Frauen Seele ist leichter zu bewältigen.

Augenblicklich spürte ich eine Veränderung in meinem Körper. Neugierig hob ich den Spiegel hoch und schaute hinein. Eine dicke Staubschicht behinderte die Sicht, mit dem Ärmel wischte ich ein paar Mal darüber. Im gleichen Moment stieg mir der Staub in die Nase so dass ich laut niesen musste. Mir wurde schwarz vor Augen, ich wankte und musste wohl letztendlich hingefallen sein. Als ich wieder die Augen öffnete lag ich auf dem Boden. Mein Körper fühlte sich erneut mit Stärke gefüllt an, ich war wieder einen Einheit. So sehr ich ihn auch in meiner Wohnung suchte, der kleine Spiegel blieb verschwunden. Bestimmt würde er nun der nächsten Seele helfen. Seitdem bleibe ich oft stehen, wenn ich an einem Spiegel vorbei gehe und winke meiner Seele zu, in der Hoffnung, dass sie sich wohl bei mir fühlt und den Rest meines Lebens bei mir bleibt! Den Mann habe ich nie wieder gesehen, aber ich bin mir sicher er ist immer noch auf der Suche nach einer geeigneten Seele von der er Besitz ergreifen kann. Keine Angst, solange du genügend Ecken und Kanten zeigst, geschieht dir schon nichts, denn er wird einen weiten Bogen um dich machen.

Das Wartezimmer

Samstag, August 7th, 2010

Während ich die Holztür aufdrücke fühle ich mich, als hätte ich gerade einen Berg erklommen. „Ich habe einen Termin um 14.30 Uhr,” keuche ich. Meine Atemlosigkeit ist mir zwar unangenehm, aber was soll man machen, wenn der Aufzug defekt ist und die Praxis sich im sechsten Stockwerk befindet?  „Name bitte?”, fragt eine junge Frau in einem roten Rollkragenpullover ohne dabei hoch zugucken, denn ihr Blick ist tief über ein großes Buch gebeugt. „Helen Hess,” sage ich langsam. Einige Augenblicke vergehen. Ich stütze mich immer noch hechelnd mit beiden Händen an der Empfangstheke ab. „Mh, … ich kann Sie nicht finden … dann nehmen Sie doch einfach für einen Moment dort drüben Platz.” Mein Blick folgt ihrer lapidar hingeworfenen Handbewegung zu einer milchig-weißen Tür auf der in ebenfalls weißen Buchstaben: RAUM I angebracht ist.

Beim Öffnen merke ich das diese Glastür bedeutend schwerer ist als die im Eingangsbereich. Augenblicklich durchfährt mich in meiner rechten Hand ein stechender Schmerz. Dieses unangenehme Gefühl ist mir bereits vertraut, dennoch überrascht mich sein plötzliches Erscheinen immer wieder. Ich bewege die Hand einige Male schnell hintereinander als wollte ich den Schmerz wegschütteln und betrete einen hellen Raum in dem sich ungefähr zehn Leute aufhalten, die Hälfte davon ist in eine Zeitschrift vertieft, die andere Hälfte starrt stumpf vor sich her. Nachdem ich meine Jacke an der Garderobe abgelegt habe hauche ich ein Guten-Tag irgendwo in die Mitte des Raumes. Es muss wohl etwas zu leise gewesen sein, denn niemand antwortet mir. Ich frage mich, warum es diesen Brauch überhaupt gibt, plötzlich Leute zu grüßen, nur weil man sich schicksalsverbunden zufällig zur selben Zeit am selben Ort befindet. Auf unbestimmte Zeit eingepfercht auf ein paar Quadratmetern …

Es sind nur noch zwei Stühle frei. Das Plastik fühlt sich hart und kalt an, deswegen rutsche ich einige Male hin und her. Ich greife zu einem Zeitschriftenstapel. Die Auswahl ist mager, die Magazine sind ziemlich abgegriffen und auch nicht mehr ganz aktuell. Meine Wahl fällt auf eines dieser furchtbaren Klatschblätter, die man freiwillig nie kaufen würde, aber dennoch bei jeder Gelegenheit geradezu verschlingen muss. Gierig tauche ich ein in die Welt der Stars und Sternchen … wer alles mit wem, … wie viel abgenommen hat, … Schluss gemacht oder doch nicht … die neusten Erkenntnisse über Botox, Fettabsaugen lassen oder doch lieber eine Diät machen. Ein Grunz-Schmatz-Laut lässt mich plötzlich in die Höhe fahren. Das Geräuch stammt von einer Frau in pinken Leggings. Ich sehe gerade noch wie ihr Finger aus dem linken Nasenloch wieder zurück zu der Zeitschrift geht, um die nächste Seite umzublättern. Mit halbgesenktem Kopf werfe ich ihr einige böse Blicke zu. Was sie leider völlig ignoriert. Einmal meine Aufmerksamkeit in unangenehmer Weise erregt, kann ich mich nicht mehr auf das Lesen konzentrieren, ich höre nur noch dieses Schmatzen in meinem Ohr. Tiefdurchatmen – ruhig bleiben – an etwas anderes denken … Schließlich lasse ich den Blick im Raum umher schweifen. Schnell wird mir klar, dass nicht nur die Dame in Pink einen Dauergeräuschpegel in dem kleinen Raum verursacht. Der Mann links neben mir fängt plötzlich an leise zu pfeifen. Im Prinzip ist es gar kein Pfeifen vielmehr zieht er mit gespreizten Lippen die Luft ein und aus wodurch ein Zischlaut entsteht. Auch er bekommt meinen bösen Blick zu spüren. Langsam wird mir bewusst, dass ich die Wirkung meiner Blicke ziemlich überschätze.

Ein junger Mann mit Brille und glänzenden Schuhen betritt den Raum. Er grüßt höflich in die Runde und setzt sich mit schwungvoller, dennoch eleganter Bewegung auf den letzten freien Stuhl. Seine Normalität beruhigt mich und lässt mich jegliches Grunzen und Ein-Aussaugen vergessen. Damit er sich nicht genauso vor den Kopf gestoßen fühlt wie ich, grüße ich umgehend zurück. Zum ersten Mal fühle ich mich von der pinkfarbenen-grunzenden Frau beachtet. Sie guckt mich völlig irritiert an, die Gunst der Stunde nutzend, werfe ich ihr erneut einen bösen Blick zu. Wahrscheinlich zu spät, denn sie hat ihren Kopf bereits zu den glänzenden Schuhe des jungen Mannes gedreht. Die Tür geht auf und die Frau in dem roten  Wollkragenpullover  von dem Empfang betritt den Raum. Hoffnungsvoll blicke ich zu ihr hoch: „Bitte“ denke ich, „Bitte, sage meinen Namen …“

Doch stattdessen höre ich nur ein Gelangweiltes: „Herr Berger, sie sind der Nächste.” Als ob er es geahnt hätte, steht in einem Bruchteil von Sekunden ein Mann an der Tür. Ich meine ein schadenfreudiges Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen als er den Raum verlässt. ‘Vielleicht schneidet er aber auch nur ein paar Grimassen um seine Gesichtsmuskulatur zu lockern, denke ich scherzhaft. Ein Husten lässt mich zusammen zucken. Eigentlich sitze ich hier um gesund zu werden und nicht noch kränker. Der Hustlaut scheint kein Ende mehr zu nehmen, wird im Gegensatz nur noch schlimmer und geht schließlich in ein Würgelaut über. Die Frau in Pink scheint sich wohl darauf spezialisiert zu haben unmögliche Geräusche von sich geben zu müssen. Schließlich verlässt sie mit tief nach vorn gebeugtem, hochrotem Kopf den Raum. Ich fühle mich erleichtert und schaffe es sogar einen älteren Herrn in einem dunklen Anzug zu ignorieren, der mit weit aufgerissenen Augen unentwegt an die Decke starrt, als würde dort eine geheime Botschaft stehen. Es gelingt mir sogar auszublenden, das er nach einer Weile anfängt furchtbar mit dem Kiefer zu knirschen, so dass für wenige Sekunden die Ein- und Aussauglaute vollkommen überdeckt werden.

Schon im nächsten Moment öffnet sich die Tür erneut auf und eine korpulente Frau mit theatralischer Geste und wehendem Mantel tritt ein und zerstört somit alle Versuche mich dieser nervtötende Umgebung zu entziehen. Die Dame scheint in einem Bruchteil von Sekunden den Raum abgescannt zu haben und entdeckt tatsächlich eine Bekannte, die am anderen Ende sitzt. Augenblicklich entfährt ihr ein: „Marie, wie schön dich hier zu treffen … wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen? Ewig, … ach du meine Güte und jetzt hier! Was für ein Zufall, wie wundervoll.“ Marie scheint weniger entzückt zu sein. Die Frau redet in einem fort wie ein Wasserfall. Ihre eher unauffällige Bekannte nickt dabei ab und zu mit einer mechanisch anmutenden Kopfbewegung. Manchmal sagt sie auch: „Aha, ach so ist das … was du nicht sagst.“  Man kann schwer sagen, ob sie interessiert ist oder sich nicht anders zu helfen weiß. Die korpulente Frau in dem langen Mantel stellt wilde Theorien auf: „Eigentlich interessiere ich mich überhaupt nicht für Geschichte, das sind doch alles reine Spekulationen, das ist doch alles nur fiktiv, ich meine wie kann man wissen was vor hunderten von Jahren passiert ist, wenn man noch nicht einmal den Tod von Lady Di aufklären kann. Und überhaupt was für ein Tod. Eine ganz, ganz tragische Geschichte. Und dabei waren sie gerade soooo glücklich. Mit dem Mann sage ich dir, wäre ich aber auch glücklich geworden. Weißt du eigentlich wie reich der war? Und gut sah er aus! Dann dieser Unfall … wie habe ich damals mitgelitten?“ Da ihr ewiger Monolog das Einzige ist was die Stille durchbricht, muss ich ihr unweigerlich zuhören. Plötzlich schwenkt das Thema zu diversen gemeinsamen Bekannten um und die unscheinbarere Frau – Marie –kommt endlich auch einmal zu Wort.

Die Menschen in dem Raum scheinen sich in ihrem eigenen kleinen Universum zu befinden. Ich muss mich in den Arm kneifen um mich von meiner eigenen Anwesenheit zu überzeugen. Die Monotonie der Situation wird lediglich dadurch unterbrochen, dass im Viertelstunden-Takt einer der Wartenden herausgerufen wird. Jedes Mal drehe ich den Kopf hoffnungsvoll zur Tür, doch mittlerweile habe ich mich schon mit dem Gedanken abgefunden, dass es noch eine Weile dauern kann. Ab und zu, jedoch selten, kommen neue Leute herein.

So kommt eine Frau Mitte vierzig mit ihrem ungefähr sechzehnjährigen Sohn herein. Der Umgang der beiden wirkt sehr vertraut. Gelangweilt kaut der Junge Kaugummi. Die beiden setzten sich wortlos nebeneinander, die Mutter greift sofort zu dem Magazinstapel. Mutter und Sohn sprechen immer noch kein Wort miteinander. Nur einmal tippt die Frau hektisch auf etwas das sie in einem der Magazine entdeckt hat. Der Sohn nickt zustimmend und grinst. Ich bin fasziniert von dieser Kommunikation, die auf einer ganz eigenen Zeichensprache zu basieren scheint.

Die enge des Raumes löst eine plötzliche Energielosigkeit in mir aus, alles scheint an Schwerkraft zu verlieren. Schließlich nimmt die Apathie überhand und meine Lieder fallen zu. Ich muss wohl für einige Zeit eingenickt sein, denn als ich die Augen wieder aufschlage ist es bereits Dunkel. Das Magazin ist aus meiner Hand auf den Boden gefallen und liegt nun aufgeschlagen vor mir. Es befindet sich nur noch der junge Mann mit den glänzenden Schuhe in dem Raum und sieht mich an. Flirtet er mit mir? Die Situation ist schwer einschätzbar. Unsere Blicke kreuzen sich, ich würde gerne mit ihm ein Gespräch beginnen und überlege was wohl der beste Einstieg dafür sei. Doch der Augenblick währt nicht lange, die Tür öffnet sich und die dauergelangweilte Frau in dem Rollkragenpullover erscheint wie schon so oft an diesem Tage. Der junge Mann steht auf und geht, doch bevor er den Raum verlässt, dreht er sich noch einmal um und haucht: „Viel Glück.“ Er spricht allerdings so leise, das ich mir nicht sicher bin, ob er das wirklich sagt. Viel Glück würde angesichts meiner Situation keinen Sinn machen oder denkt er das ich so krank bin das ich Glück brauchen würde. Irritiert erwidere ich: „Danke“, ebenfalls so leise, dass es genauso gut ein Tschüß hätte sein können. So bleibe ich als Einzige zurück. Totenstille.

Es vollkommen dunkel draußen geworden. Ich erhebe mich um den Lichtschalter zu drücken. Meine Glieder sind schwer und fühlen sich an als wären sie mit dem Stuhl bereits verwachsen. Der Raum erstrahlt nun in einem grellen Licht und bekommt dadurch eine Sterilität, die in mir eine ungewohnte Befangenheit auslöst. Das klinische Weiß an den Wänden, dazu die stickige Luft, mein Atem geht schwer und langsam. Der plötzlichen Lichtüberfluss lässt alles überreal erscheinen.

In dem Moment öffnet sich zum letzten Mal an diesem Tag die Tür. Mit erstauntem Blick steht die Rollkragen-Frau vor mir: „Ach, da ist ja noch jemand … das tut mir leid, da haben wir sie wohl ganz vergessen! Und ich habe mich schon so auf meine Feierabend gefreut.” Ich nicke emotionslos, vor ein einigen Stunden noch hätte mich dieser Moment mit Freude erfüllt, doch jetzt spüre ich nicht mal mehr Erleichterung. „Wie war der Name?“, fragt sie mich nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag. „Helen Hess.“, sage ich gleichgültig. „Sie stehen gar nicht auf meiner Liste. Na, dann gehen sie einfach den langen Gang dort entlang, der macht eine leichte links Kurve und nehmen dann die zweite Tür links.“ Wortlos folge ich der Bewegung ihrer Hand. Ich bin mir nicht sicher ob ich ihre Beschreibung richtig verstanden habe, doch bin ich mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem mir alles egal ist. „Raum drei“, ruft sie mir noch hinter her.

So stehe ich vor einer milchig-weißen Tür auf der in ebenfalls weißen Buchstaben: RAUM III angebracht ist und komme in einen halbdunklen Raum mit schweren Eichemöbeln. Setzte mich an einen breiten Tisch und blicke einem Mann mit Halbglatze und Brille in die Augen. Das heißt, ich versuche es, denn die Brille spiegelt so sehr, dass ich seine Augen nur erahnen kann. Er hat die Hände vor seinem Bauch gefaltet und sagt: „Ach, da ist ja noch Eine. Da haben wir Sie wohl ganz vergessen?” Es folgt eine erwartungsvolle Pause. Nun bin ich am Zug, doch was um Gotteswillen kann man auf diese Äußerung erwidern?

Ich mich erst mehrere Male Räuspern bevor ich ihm mein Anliegen vortragen kann: „Also, ich hoffe sie können mir helfen, denn ich habe Schmerzen in meiner rechten Hand, ein Stechen, … eine Art Dauerschmerz, seit Tagen oder besser Wochen schon. Es fühlt sich an als würde jemand mit einem langen, spitzen Stab permanent hinein stechen …” Während ich diese Worte sage oder besser aus mir heraus presse, muss ich mir selbst erst vergegenwärtigen warum ich eigentlich hier sitze. Dabei konzentriere ich mich auf meine Hand, denn schlagartig wird mir bewusst, dass das Stechen seit Stunden, fast schon seitdem ich die Praxis betreten habe, verschwunden ist. So kann ich nur noch stammeln: „äh … ich hatte zumindest Schmerzen. Jetzt sind sie irgendwie weg. Seltsam, dass kann ich mir jetzt selbst nicht erklären.” Ich schüttele meine Hand heftig in der Hoffnung, dass der vertraute Schmerz wieder erscheint. Stille, keiner von uns beiden sagt einen Ton. Die Anwesenheit einer Uhr kann ich nur durch ein bedrohliches Ticken erahnen. So stammle ich einfach weiter: „Also, ich meine ich hatte Schmerzen, bzw. habe jetzt keine mehr. Mir ist bewusst, dass sich da ganz schwer eine Diagnose fällen lässt.“  Der Mann nickt langsam, bedächtig. Diese Ambiente erinnerte mich an einen alten Schwarz/Weiß-Film. Wir sitzen uns einige Sekunden schweigend gegenüber, als würde die Zeit stehen bleiben. Schließlich sagte er: „Leider muss ich ihnen gestehe, dass ich gar nicht der richtige Arzt für ihr kleines Problem bin. In dem Fall würde ich Ihnen eher einen Orthopäden empfehlen. Warten sie … ich schreibe ihnen mal eine Nummer auf.” Dabei nimmt er einen Zettel und schreibt eine Nummer darauf. Er muss seinen Arm lang ausstrecken, um mir den Zettel entgegen zu strecken, welchen ich zögerlich entgegen nehme. „Großartig Sie haben die Rolle. Bitte rufen Sie mich morgen auf dieser Nummer an und wir klären alle weiteren Details. Sie sind einfach wie geboren für eine der Hauptrollen in der neuen Arztserie. Diese neue Sendeformat ist wie geschaffen für sie …“ Zum Abschied reicht er mir seine Hand und schüttelt sie kräftig. Da ist er wieder der stechende Schmerz.

Ein Märchen

Dienstag, Februar 23rd, 2010

… von magischen Augen, einer Katze und einem Goldfisch

„Irgend etwas ist sehr merkwürdig an den Augen ihrer Katze.“ Herrn Theus wollte gerade das Haus verlassen, als ihn eine Nachbarin ansprach:, „ … mich stört es nicht so sehr, doch sie sollten sich etwas einfallen lassen. Das ältere Ehepaar eine Etage tiefer, traut sich seitdem kaum mehr aus der Wohnung …“

Als Herr Theus am Abend nach Hause kam, nahm er einen Stuhl und setzte sich zu seiner Katze in Augenhöhe. Sie saß wie so oft auf der Fensterbank und guckte nach draußen. „Nimm das jetzt bitte nicht persönlich“, sagte er, „… aber eine Nachbarin hat mich heute darauf angesprochen …“ Die Katze drehte den Kopf in seine Richtung: „Mach dir keine Sorgen, lange werde ich sowieso nicht mehr bleiben.“ Herr Theus war  im ersten Moment erstaunt, jedoch hatte er immer schon etwas geahnt: „Du kannst sprechen?“ „Ja, aber erst mit Eintritt der Dämmerung.“ Er fühlte sich erleichtert: „Das macht es einfacher mit dir zu kommunizieren … also, was ich sagen wollte, die Leute im Haus haben sich beschwert. Weder du noch ich können etwas dafür, aber es ist nun mal so … und ich möchte nicht das du deswegen gehst. Du würdest mir fehlen.“ Mit einer schnurrenden, samtigen Stimme entgegnete die Katze: „In absehbarer Zeit werde ich gehen müssen. An diesem Ort kann ich nicht lange verweilen.“ Es war gar nicht Herr Theus Art, Dinge zu hinterfragen und so wechselte er schnell das Thema. „Soll ich dir etwas zu Essen machen?“ „Danke ich habe heute schon gegessen, aber würde es dir etwas ausmachen die Heizung hochzudrehen, ich finde es etwas kühl.“ So verbrachte er fortan ganze Nächte im Gespräch mit seiner Katze, die ihm ganz neue Aspekte in sein Leben brachte. Im Morgengrauen verlor sie diese ungewöhnliche Begabung und mit einem lauten Miauen wurde die nächtliche Plauderstunde beendet. Eines Tages passierte das, was die Katze von Anfang an prophezeit hatte: Sie verschwand schlagartig. Den ersten Abend, den Herr Theus allein verbringen musste war er noch voll von Hoffnung sie am nächsten Tag wie gewohnt auf der Fensterbank sitzen zu sehen. Doch je mehr Tage vergingen desto weniger glaubte er daran sie je wieder zusehen. So blieb ihm nicht viel mehr als ein langsam verblassender Abdruck einer Katzenpfote auf der Fensterbank. An emotionale Ausbrüche dieser Art nicht gewohnt, musste er mit Erstaunen feststellen, dass ihm plötzlich eine dicke Träne über die Wange rollte.

Am nächsten Tag ging Herr Theus in ein Zoogeschäft und entschied sich für ein neues Haustier: Einen Goldfisch. Der Grund warum er sich gerade für dieses Tier entschieden hatte, lag auf der Hand, denn er hatte magische Augen. Seinen neuen Freund in dem schönen neuen Aquarium betrachtend, wartete er bis es endlich Nacht wurde. Doch nichts passiert, er machte nicht die geringsten Anstalten mit ihm zu kommunizieren. „Mh, schade“, dachte sich Herr Theus aber im Grunde genommen war es keine Überraschung, wie sollte er den ihn auch durch die dicken Scheiben des Aquariums verstehen. Doch begnügte er sich schnell damit dem Fisch bei dem endlosen Kreisen in dem Wasserbehälter zuzusehen. Drei Wochen später war das Tier verschwunden. Herr Theus wusste das die Suche nach einem Goldfisch relativ aussichtslos ist und so verschwendeter er nicht viel Zeit darauf sich Gedanken über sein Verbleiben zu machen. Schließlich kann man nicht alles erklären was in der Welt so vor sich geht.

Manchmal überkam ihn ein wehmütiges Gefühl, doch entschied er sich nie wieder ein Haustier zuzulegen. Zwei Wochen später war Herr Theus schließlich selbst verschwunden. Der Nachbarin fiel es als erstes auf. Durch das Verschwinden der Katze und dann des Goldfisches war sie sehr misstrauisch geworden. Und jetzt blieb auch noch Herr Theus selbst wie vom Erdboden verschluckt.  Im Hausflur begegnete Sie dem älteren Ehepaar, das eine Etage tiefer wohnte: „Der arme Herr Theus, was mit dem wohl passiert sein mag …?“ sagte die alte Frau und drehte sich zu ihr um. Ein kalter Schauer durchfuhr die Nachbarin als sie bei diesen Worten ein magisches Funkeln in den Augen der Alten sah …

Kleine Geschichte aus dem Alltag

Montag, Januar 25th, 2010

… nicht nur ein Sofa

Eines Tages kam ich an einem Möbelladen vorbei. Vom Eingang her sehr gut sichtbar, stand dort ein großes, pinkfarbenes Sofa mit Cordbezug. Ich war fasziniert. Das war eines dieser Dinge, die man sieht und sofort weiß: „Das ist nur für mich gemacht“. Wäre das Sofa ein Mann gewesen, hätte ich es sofort geheiratet! Magisch angezogen, eilte ich in den Laden und versank in den bequemen pinkfarbenen Cordpolstern. Am liebsten wäre ich gar nicht mehr aufgestanden, so gemütlich waren diese weichen, flauschigen Kissen.

Das muss ich haben! Doch wie aus dem Nichts meldete sich plötzlich meine Vernunftstimme und sprach: „Es ist viel zu groß, sperrig und außerdem hast du gerade gar keine Wohnung. Das Letzte also, was du in deinem Leben brauchst, ist ein Sofa“. Meine Kauflaune war schlagartig beendet und die Vernunft siegte. Desillusioniert stand ich auf und verließ den Laden – ohne Sofa. Dennoch nahm ich jeden Tag einen riesengroßen Umweg in Kauf, um an dem Möbelladen vorbei zu kommen und mich zu vergewissern, dass es noch da ist. Nach nur vier Tagen war es weg. Völlig geschockt und fassungslos eilte ich in das Geschäft. „Bestimmt haben sie es nur umgestellt und es steht jetzt an einer anderen Stelle“, versuchte ich mich zu beruhigen. Der Verkäufer aber schüttelte auf mein Nachfrage hin nur mitleidig den Kopf:„Tja, bei so einem Schnäppchen muss man eben sofort zuschlagen“. Diese Antwort war niederschmetternd und angesichts meines fassungslosen Gesichtsausdruckes, fand ich diese Reaktion geradezu herzlos. Zerknirscht startete ich noch einen letzten Rettungsversuch: „Wie heißt denn der Hersteller, vielleicht können Sie es nachbestellen.“ „Das ist unmöglich, denn hierbei handelte es sich um ein Einzelstück, das eigens für uns angefertigt wurde“. Zerschlagen verließ ich den Laden.

Noch lange trauerte ich meinem Sofa hinterher. Ich schmiedete sogar Pläne wie ich den Käufer ausfindig machen könnte. Vor meinem inneren Auge sah ich mich überall in der Stadt Zettel aufhängen: Belohnung! Wer hat zwischen dem … und dem … MEIN pinkes Cordsofa bei Möbel & More gekauft. Bitte sofort unter folgender Telefonnummer melden … Natürlich war das nur ein Hirngespinnst. Doch um die Sache irgendwie verarbeiten zu können, kaufte ich schließlich für meine neue Wohnung alle möglichen Gegenstände in rosa/pink: Stühle, Blumentöpfe, Messer mit pinkfarbener Klinge, Vorratsboxen … egal, Hauptsache die richtige Farbe. Eine Zeitlang war ich geradezu fixiert von dem Gedanken an das pinkfarbene Sofa. Noch heute ertappe ich mich manchmal dabei, dass ich mir das Sofa in meiner neuen Wohnung vorstelle oder unwillkürlich dieses Sofa mit jedem andern vergleiche. Meistens aber, nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht habe, komme ich immer zu dem Schluss, dass es gut war das ich das Sofa nicht gekauft habe: Es war viel zu groß und hätte nirgendwo hingepasst. So setze ich mich etwas wehmütig auf meinen pinken Klappstuhl, nehme einen Stift aus meiner pinken Stiftebox, gucke aus dem Fenster, vorbei an meinem pinken Blumentopf und schreibe ein kleine Geschichte über ein pinkfarbenes Sofa, das für mich bestimmt war, auf dem nun eine Person sitzt, die überhaupt gar keinen persönlichen Bezug zu diesem Möbelstück hat. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt und vielleicht wird das Schicksal mich irgendwann wieder mit meinem Sofa zusammenführen …

Die erste Kurzgeschichte in diesem Jahr

Mittwoch, Januar 6th, 2010

Fünfzehn Minuten

Es war kalt und regnete, dennoch quälte ich mich vor die Tür. Schließlich konnte ich nicht schon wieder eine Verabredung absagen, nur weil ich mich gerade nicht danach fühlte. Die Bahn kam wieder einmal zu spät. Durchgefrohren und verärgert setzte ich mich auf den erstbesten Platz den ich erreichen konnte. An der nächsten Haltestelle stieg ein Mann ein – dunkel gekleidet, ein zweideutiges Lächeln auf den Lippen. Die Bahn war menschenleer, dennoch steuerte er zielstrebig auf den mir gegenüberliegenden Platz zu. Im ersten Moment dachte ich daran mich einfach wegzusetzen, doch dieser eine, letzte Impuls von Ärger und Entrüstung fehlte um dieses Vorhaben in die Realität umzusetzen.

Wie gelähmt blieb ich sitzen, wandte demonstrativ meinen Kopf ab. Draußen war es bereits dunkel und die Scheibe verwandelte sich in einen Spiegel. Zuerst sah ich mein müdes, fahles Gesicht, dann sein Spiegelbild. Er beobachtete mich. Das Gefühl von Unwohlsein wurde immer stärker. Ich wagte es nicht einmal genauer hinzusehen um festzustellen wer er eigentlich war. Für einen kurzen Moment streiften sich unsere Blicke. Die Situation wurde unerträglich, ich musste ihn ansprechen. Als ob gar nicht ich die Worte sagen würde, hörte ich meine zittrige Stimme die Stille durchbrechen: „Wissen Sie vielleicht wann wir genau am Hauptbahnhof ankommen werden?“ „In fünfzehn Minuten“, antwortete er knapp. Nachdem schon wieder einige Zeit verstrichen war und ich fast nicht mehr mit einer weiteren Reaktion gerechnet hätte, sagte er: „Ich spüre das sie gerade etwas sehr bewegt.“ Etwas verwirrt, antwortete ich: „Ich glaube nicht das sie das etwas angeht. Wir kennen uns doch gar nicht.“ „Geben sie mir ihre Hand“, entgegnete er bestimmend, griff im selben Augenblick danach und legte sie in seine. Wieder überkam mich ein lähmende Gefühl und ließ es geschehen.

Verwundert stellte ich fest, das diese plötzliche Berührung eines Fremden mir nicht unangenehm war. Umso mehr erschreckte es mich als er meine Hand mit einem Ruck nach hinten bog, so dass die Sehnen fast schon ein wenig überspannten. Ich war erstaunt, denn diese  raue Bewegung stand ganz im Gegenzug zur sanften Wärme die ich eben noch gespürt hatte. Er beugte sich tief über meine offene Handfläche und bog sie im Gelenk noch einmal etwas stärker nach unten, so als ob er testen wollte wie dehnbar ich wäre. Schließlich sprach er: „Ich werden mit meiner Deutung erstmal an der Oberfläche bleiben. Sie haben jedoch die Möglichkeit später eine Frage zu stellen. Aber nur Eine!“ , fügte er drohend hinzu. Wie ein aufgeklapptes Buch fühlte ich mich plötzlich. Sein stechender Blick war direkt auf mich gerichtet. Er kniff seine Augen zusammen, wodurch sie noch kleiner wurden und das Weiß darin fast völlig verschwand. Mehr als ein leichtes Nicken, konnte ich nicht erwidern.

Nachdem er einen Stift aus seiner Jackentasche gezogen hatte, wandte er sich wieder meiner Handfläche zu, begann mit der Stiftspitze tief in meiner Hand zu stechen, um drei Punkte zu markieren. Von Mal zu Mal stach er stärker zu. Diese Handlung war genauso rau und unvorhergesehen wie das gewaltsame Zurückbiegen meiner Hand. Obwohl es fast schon schmerzte, entgegnete ich nichts, sondern wartete gespannt wie es weiter gehen würde. „Dieses sind die drei Säulen in ihrem Leben, auf die sie sich stützen um nicht umzukippen. Sie haben Angst davor eine dieser Säulen zu verlieren, doch in Wirklichkeit brauchen sie nur eine Einzige. Ich rate ihnen: lösen sie sich von diesen nutzlosen Pfeilern in ihrem Leben, sie behindern sie mehr als das sie ihnen helfen würden! …“ Er redete weiter, immer schneller und hastiger, sein Kuli stach weiter in meine Handfläche ein. Es schmerzet aber ich sagte nichts. Woher kam nur dieses lähmende Gefühl. Wieso befreite ich mich nicht aus dieser unbegreiflichen Situation?

Seine Augen waren nur noch dünnen Schlitze. Wer war dieser Mensch? Warum tat er das Alles? Sein Gesicht schien förmlich in den Linien meiner Hand zu versinken. War mir seine Wärme eben noch angenehm erschienen, so spürte ich plötzlich eine Kälte meinen ganzen Körper durchziehend. Erschrocken zog ich meinen Arm zurück. Zum ersten Mal sah ich seine Hand darunter liegen. Unfassbar musste ich feststellen, das die Oberfläche dieser keine einzige Linie durchzog, ich blickte auf eine glatte Hautfläche. Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. „Nun“, sagte er,„hier muss ich Sie leider verlassen, wir haben die Haltestelle erreicht an der ich aussteigen muss. Schade, gerade hat es richtig Spass gemacht mich mit ihnen zu unterhalten. Sie müssen noch weiter fahren? Ach ich vergaß bis zum Hauptbahnhof wollten sie ja. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.“ Er ging zur Tür. Kurz bevor er die Bahn verließ drehte er sich nochmals zu mir um. „Sind sie sicher, das sie zum Hauptbahnhof wollen. Sie könnten doch genauso gut bis zur Endhaltestelle fahren, oder auch hier aussteigen oder eine weiter und dann aussteigen … haben sie mal über diese Möglichkeiten nachgedacht?“ Er verschwand in der Dunkelheit und ließ mich ratlos zurück. Mit einem leichten Ruck fuhr die Bahn los.

Die nächste Haltestelle hieß Inselstraße. Seltsam, so oft ich diese Strecke schon gefahren war, doch an dieser Station war ich noch nie ausgestiegen. Ich drückte mein Gesicht dicht an die Scheibe um etwas sehen zu können. Eine Straßenlaterne beleuchtet ein schönes Eckhaus mit einer Kneipe die „Bunter Hund“ hieß. „Sind Sie sicher das Sie zum Hauptbahnhof wollen …“, die letzten Worte dieses mysteriösen Herren kamen mir wieder in den Sinn. Nein, ich war mir nicht sicher. Was wollte ich eigentlich am Hauptbahnhof? So sehr ich auch darüber nachdachte, es fiel mir nicht mehr ein. Ein kalter Windzug zog durch die immer noch offen stehende Tür herein. Ich stand mit einem mal fest entschlossen auf und stieg aus. „Mal sehen was in dem „Bunten Hund“ so los ist …“