Die Kleine und die Große

Eine junge Frau sitzt auf einer Parkbank. Wie aus dem Nichts, steht plötzlich ein kleines Mädchen vor ihr und starrt sie an. Dieser forsche, zielgerichtete Blick reißt sie aus ihren Tagträumen: „Kaufst du mir ein Eis?“ Die Frau ist zunächst sprachlos, doch die dünne Kinderstimme wiederholt etwas eindringlicher: „Was ist jetzt, kaufst du mir ein Eis?“. Der erste Impuls der Frau ist  „Nein, warum sollte ich“ zu sagen, doch dann ändert sie ihre Meinung: „Ganz schön frech bist du! Aber nagut, ich kaufe dir ein Eis, wenn du mir versprichst, dass du brav bist und keine fremden Leute mehr ansprichst, die gerade trübsinnig ihren Gedanken nachgehen.“ „Waaaaas, du kaufst mir wirklich ein Eis?“ „Ja aber, warum fragst du mich überhaupt, wenn du es selbst nicht für möglich gehalten hast.“ Verschüchtert beißt sich das Mädchen auf die Lippe und schweigt.

Das Eisgeschäft befindet sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, gehorsam trottet die Kleine hinter ihr her. „Was möchtest du?“ fragt die Frau und dreht sich dabei zu dem kleinen Mädchen um. „Vanille und Nuss.“ „Zufälle gibt es, das sind auch meine Lieblingssorten oder waren es viel mehr, als ich noch ein Kind war.“ „Duuu warst mal ein Kind?“ „Wieso, sehe ich so alt aus, dass du mir das nicht zutraust?“„Neeeeein, lacht das Mädchen, „du bist nur so grooooß.“ Sie lachen nun beide und die Frau muss überlegen, wann sie das das letzte Mal so herzhaft getan hat. „Ich möchte auch so sein wie du, so groß.“ Bewundernd nimmt das Mädchen den Kopf in den Nacken und sieht zu ihr hoch. „Ach, lieber nicht, das wirst du noch früh genug und dann wünschst du dir wieder klein zu sein!“ „Aber wenn ich groß bin, dann werde ich Schauspieler oder Abenteurer oder ich fahre einmal quer durch den ganzen AmaSonas … oder …“ „Es heißt Amazonas mit einem Z … Was für eine naive Vorstellung. Du weißt gar nicht wie gefährlich es dort ist. Man muss sich gegen Alles mögliche Impfen lassen, sonst bekommt man nachher noch eine lebensgefährliche Krankheit. Außerdem gibt es jede Menge bösartige Tiere. Das sind doch alles nur Träumereien. Warte mal ab, bis es soweit ist wirst du dich bestimmt ganz anders entscheiden!”

Der  Gesichtsausdruck des Mädchens wird mit einem Mal sehr streng und wirkt gar nicht mehr kindlich. Ihre Stimmte klingt barsch und verliert den piepsigen Ton. “Wie redest du mit mir? Das ist respektlos. Lass mir meine Träume, wenn du keine mehr zu haben scheinst.” Die Frau erschrickt, dass sind nun nicht mehr die Worte eines kleinen Mädchens. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen oder verletzen …” Die Kleine kneift ihre Augen zu und beobachtet jede ihrer Bewegungen genau. Die Frau ist irritiert: „Was siehst du mich so an, erinnere ich dich an jemanden, … an deine Mutter?” „Mh, kann sein oder an meine große Schwester vielleicht.” Sie verfällt schlagartig in eine nachdenkliche Haltung und mit konzentriertem Blick kaut sie geistesabwesend an ihren Fingernägeln. Wie aus einem Reflex entfährt der Frau ein Lautes: „Neeein, fang bloß nicht damit an, je früher du damit aufhörst desto besser.” Dann fügt sie deutlich leiser hinzu: „Sie dir meine Nägel an, bis heute habe ich mir diese schlechte Eigenschaft nicht abgewöhnen können.” Mit diesen Worten streckt sie die Finger aus und zeigt sie dem Mädchen. „Oh, die sehen aber nicht schön aus!” ihr Gesichtsausdruck wirkt dabei angewidert: „Solche hässlichen Nägel wie du möchte ich nicht haben!”

Dem Mädchen steigen plötzlich dicke Tränen in die Augen, dabei schüttelt sie sich und stampft mit dem Fuß auf. Als sie schließlich beginnt bitterlich zu weinen und dabei haarsträubende Schluchzlaute ausstößt, wird es der Frau langsam unangenehm. Sie schaut verstohlen nach links und rechts. Am liebsten hätte sie jedem der Vorbeigehenden gesagt: „Äh, das ist nicht mein Kind, … ich weiß auch nicht, was sie hat …“ Doch niemand scheint Anteil an dem Gefühlsausbruch des kleinen Mädchens zu nehmen. Keiner beachtet die Beiden. „Du hast es versprochen!“ „Was habe ich versprochen?“ Mit tränenerstickter Stimme, stößt das Mädchen hervor: „Damals hast du gesagt, dass …“ mitten im Satz stockt sie  und schluckt die letzten Tränen herunter: „Ich bin ich froh dich getroffen zu haben. Vielen Dank für das Eis.“ Das kleine Mädchen stopft sich schnell den letzten Bissen der Waffel in den Mund, dreht sich um und verschwindet hinter den parkenden Autos. Als sie schon nicht mehr zu sehen ist, hört man ihre piepsige Stimme noch rufen: „… und Grüß Konrad von mir!”

Konrad? Hat sie das wirklich gesagt? Woher wusste das Mädchen davon? Konrad war ihr Geheimnis. Konrad war eine Puppe, die sie als Kind geschenkt bekommen hatte und der sie immer noch alles anvertraute, wenn sie das Gefühl hatte, sich an niemand anderes mit ihren Sorgen wenden zu können. Eine seltsame Ahnung überkommt sie, die Kleine vorher schon einmal gesehen zu haben.

Sie dachte noch lange über diese Begegnung nach, konnte sie jedoch keinen Reim darauf machen. Kurz darauf, in einer schlaflosen Nacht, holt sie schließlich einen alten Karton unter ihrem Bett hervor. Sie kramt eine Weile in den Papierschnipsel und Kleinigkeiten umher und findet schließlich ein Foto. Das Bild ist leicht verschwommen, aber sie weiß dass die Abbildung sie selbst als Kindergartenkind zeigt. Mit Bedauern muss sie feststellen, dass manche Erinnerungen, die sie vor einiger Zeit noch in ihrem Gedächtnis wie in einem inneren Film abrufen konnte, immer mehr verblassen. Ja, sie hatte sogar den Eindruck, dass die Erinnerung selbst ausgelöscht ist und nun nur noch eine Erinnerung der Erinnerung vorliegt. Wie eine mit jedem Mal schlechter werdende Kopie, wenn man sie erneut kopiert …

Auf dem Boden des Kartons finden sie ein paar alte Kinderzeichnungen. Damals war ihre Phantasie schier unerschöpflich, auf dem Papier entstanden die unglaublichsten Märchenwelten. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht betrachtet sie Bild für Bild. Bei einer der Zeichnungen stockt ihr jedoch der Atem: Ein kleines Mädchen und eine Frau mit einer Eiswaffel in der Hand vor einem Eistand. Wie ein Blitz durchfährt sie die Gewissheit, dass dies eine Szene aus einem Traum war, der sich vor langer Zeit in regelmäßigen Abständen wiederholt hatte. Immer und immer wieder. Warum, was sollte das alles? Warum wurde sie erneut mit diesem längst vergessen Traum konfrontiert? Warum scheint dieser Traum sie nun bis in die Realität zu begleiten.  Nur das sie dieses Mal nicht das kleine Mädchen ist, sondern die junge Frau. Sie hält das Bild fest in beiden Händen und ihr Blick geht zu ihren Fingernägel, welche sich makellos und unversehrt in einem perfekten Halbmond präsentieren.

Der Schrecken in ihrem Gesicht verschwindet und sie muss lächeln. Wollte sie nicht eigentlich immer schon eine Reise in den Amazonas machen?

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